Cover
Titel
Nero. Wahnsinn und Wirklichkeit


Autor(en)
Bätz, Alexander
Erschienen
Hamburg 2023: Rowohlt Verlag
Anzahl Seiten
575 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Decker, Seminar für Alte Geschichte und Epigraphik, Universität Heidelberg

Es gibt kaum einen römischen princeps, der nachhaltiger im kollektiven Gedächtnis verankert ist als der letzte Vertreter der iulisch-claudischen Dynastie – Nero. Daher ist es kaum verwunderlich, dass die Faszination an seiner Person nicht nur in der althistorischen Wissenschaft1, sondern auch in der Öffentlichkeit ungebrochen ist. Denn selten sind in der Wahrnehmung der als mali principes verrufenen Kaiser Nonkonformitäten so fabulös überliefert wie bei Nero. Dies hat allerdings zu verfestigten, öffentlichen Paradigmen und Bildern geführt, die, trotz der den Kaiser „rehabilitierenden“ Forschung der letzten Jahrzehnte2, nur selten an Wirkungskraft verloren haben.

Alexander Bätz will nun daher mit seinem Buch „Nero. Wahnsinn und Wirklichkeit“ der breiten Öffentlichkeit eine Gesamtschau dieser Forschungsergebnisse auf knapp 575 Seiten vermitteln und dabei versuchen, die Figur des Nero zu „entmythisieren“(S. 15). Eine „Revision“ des allgemeinen Nerobildes in der Öffentlichkeit zu erreichen, trifft dabei auf den Tenor der jüngsten Beschäftigung innerhalb der Wissenschaftsvermittlung mit dem letzten der Iulier-Claudier.3 Dabei greift der Autor auf das klassische Schema der Biographie zurück und führt damit die Leserschaft chronologisch durch das Leben Neros. Besonders lobenswert ist der Versuch, nicht nur literarische Quellen, sondern auch andere Gattungen, beispielsweise Inschriften, Münzen und archäologische Zeugnisse, in die Darstellung einzubinden. Dabei werden auch einem breiten Publikum wohl eher unbekannte Quellen wie die Arvalakten benutzt und einführend erklärt.

In der Einleitung (S. 11–36) wird neben dem üblichen Passus über die Quellenkritik an den drei Hauptautoren – Cassius Dio, Sueton, Tacitus – erfreulicherweise auch die Nero-Rezeption in den Blick genommen. Dabei streift B. Quellen, die selbst für den ausgewiesenen Nero-Kenner nicht sehr bekannt sein dürften (z.B. die sogenannte Kaiserchronik aus dem 12. Jahrhundert; S. 11–12).

Hierbei kommt B. nicht an den bekannten Stereotypen wie der eines Christenverfolgers oder Brandstifters vorbei, die er anreißt und im weiteren Verlauf des Buchs zu entkräften sucht (siehe den Abschnitt zum Brand Roms). Im nächsten Kapitel „Neros Welt“ (S. 37–75) unterfüttert B. seine Hinführung zum Thema mit Exkursen in die soziopolitischen und ökonomischen Strukturen des frühen Principats. Freilich sind hier – das ist aber auch nicht anders zu erwarten bei der Zielsetzung des Buches – keine neuen Erkenntnisse zu erwarten. Anschließend streift der Autor die „Geburt und Kindheit“ (S. 76–118) Neros und gibt parallel einen fast schon unvermeidlichen Abriss über die politische Geschichte der frühen Kaiserzeit bis zu seiner Erhebung als Thronfolger – beginnend mit dem Ende der augusteischen Herrschaft.

Ab hier wird nun jedem weiteren Kapitel eine literarische Ausschmückung einer zentralen Quelle über Nero als Einführung beigegeben. Dabei mag man sich nicht ganz der sehr bildlichen (und teilweise blumigen) Sprache von B. anfreunden. Vielleicht wäre hier weniger mehr gewesen.

Die folgenden Kapitel „Ins Rampenlicht gestellt“ (S. 119–140) und „Ein vielversprechender Anfang“ (S. 141–193) zeichnen Neros Regierungsantritt und das vielgerühmte quinquennium Neronis nach und berühren dabei auch insbesondere die Rolle Agrippinas. Die vielbeschworenen Zäsuren der neronischen Herrschaft – wie den Muttermord an Agrippina 59 und den Tod des Burrus bzw. den Rückzug Senecas 62 n.Chr. – und deren kritische Überprüfung verfolgt B. in den Kapiteln „Sehr eigene Interessen“ (S. 193–222), „Die Missachtung des Herkommens“ (S. 223–266) und „Selbstisolation“ (S. 267–314). Dabei beschreibt er die kontinuierliche Entwicklung der neronischen Herrschaft und lässt sich nicht durch die von den antiken Quellen vorgegebenen Einschnitte hinreißen, ein Jahr als „Epochengrenze“ zu bestimmen. Die Leitlinie der Entwicklung der spezifischen neronischen Herrschaftsausrichtung als ein Künstlerkaisertum, die B. vertritt, lässt indes eine klare Anlehnung an die Tendenz der Forschung erkennen, die durch Rolf Rilinger und Mischa Meier vertreten wurden.4

Die Verrücktheit des Kaisers wird hier zurecht in Frage gestellt und unter rationalen Folien zu erklären versucht. Dieser wichtige Ansatz wird besonders im folgenden Kapitel zum Tragen kommen, indem der Autor sich mit dem großen Komplex des „Brands von Rom“ beschäftigt und seiner Folgen für die Rezeption des Nero (S. 315–361) – Stichwort: Antichrist. Hier verwebt B. geschickt die (durchaus unsichere) antike Überlieferung mit der aktuellen kritischen Literatur, welche die Unsicherheit der Deutung des Nero als Antichrist sui generis stärker hervorheben. In den letzten Kapiteln „Allgemeine Radikalisierung“ (S. 362–410) und „Triumph und Untergang“ (S. 411–459) wendet sich B. den vielleicht problematischsten Ereignissen in Neros Bewertung zu: die Pisonische Verschwörung und die Griechenlandreise. Deren – durch den Nebel der literarischen Quellen verdunkelten – Beweggründe stellen eine enorme Herausforderung der Interpretation dar. Dabei lässt sich B. einerseits nicht zu einer abschließenden Wertung der Ursache der Pisonischen Verschwörung hinreißen und lässt hier, wie auch an anderen Stellen (z.B. bei der Klärung der Ursachen der Vindex-Verschwörung), die Beweggründe bewusst offen. Andererseits folgt B. weiterhin der vorgezogenen Linie des neronischen Künstlerkaisertums und bettet die Griechenlandreise und den anschließenden „Triumph“ in diese bewusst gewählte Darstellungsstrategie des princeps ein. Dabei verfällt B. mitunter in eigene Interpretationen, die doch methodologisch fragwürdig sind. So ist es schwer glaubhaft und schlichtweg nicht nachweisbar, dass die mit goldenen Sternen besetzte chlamys des Nero beim Einzug in Rom dieselbe gewesen sein soll, die bereits Pompeius getragen habe und dann angeblich von Caesar an Octavian weitergegeben worden sei (S. 441). Der Schlussakt findet schließlich im „Epilog“ (S. 460–475) statt, welche die Beziehung der principes des Vierkaiserjahres und der flavischen Dynastie zu Nero beleuchtet. Die ungebrochene Ambivalenz der Figur des Nero bleibt als Fazit stehen (S. 474f.).

Abgerundet wird das Werk mit (hochwertigen!) Farbphotographien und einem Stammbaum der iulisch-claudischen Dynastie, was sicherlich von der mit der Geschichte der frühen Kaiserzeit relativ unerfahrenen Leserschaft ausführlich benutzt werden dürfte. Dazu gesellen sich ein Anmerkungsapparat und das Literaturverzeichnis, das sich um eine Vollständigkeit der Forschung bemüht. Leider klappt das nicht ganz, denn einschlägige Werke wie die Monographie von Lisa Cordes5 oder der Sammelband von Jaś Elsner und Jamie Masters6 sollten in jeder Biographie über Nero enthalten sein, die sich der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse bemüht. Löblich ist auch die äußerliche Form des Buches. Ein ansprechender Drucksatz und sauberes Layout laden zum Lesen ein. Im Einband befinden sich am Anfang ein Stadtplan des antiken Roms und am Ende eine Karte des Römischen Reiches – bei beiden werden die Verhältnisse zur Zeit Neros dargestellt.

Das Buch von B. wagt sich auf ein schwieriges Terrain – den aktuellen Forschungsstand der kontrovers diskutierten Figur des Nero in eine leicht zugängliche Form zu gießen. Dabei findet B. in ansprechender Weise einen Mittelweg zwischen akademischen und „romanesken“ Duktus, wobei letzterer jedoch bisweilen über das Ziel hinauszuschießen scheint. Man stutzt daher beispielsweise über die Ausdrücke „verwinkelte Quellenlage“ (S. 14), „einmütig sichtbar“ (S. 159) oder „larmoyanter Appell“ (S. 111). Nichtsdestotrotz leistet Alexander Bätz mit seinem gewählten Zugang zur althistorischen Forschung einen vorbildlichen Versuch, den akademischen Elfenbeinturm „salonfähig“ zu machen.

Anmerkungen:
1 Hier seien nur John Frederick Drinkwater, Nero. Emperor and Court, Cambridge 2019 und Malik Shushma, The Nero-Antichrist. Founding and Fashioning a Paradigm, Cambridge 2020 erwähnt.
2 Einen Überblick über die entsprechende Literatur bietet Christian Ronning, Zwischen ratio und Wahn. Caligula, Claudius und Nero in der altertumswissenschaftlichen Forschung, in: Aloys Winterling (Hrsg.), Zwischen Strukturgeschichte und Biographie. Probleme und Perspektiven einer neuen Römischen Kaisergeschichte 31 v. Chr.–192 n. Chr. (Schriften des Historischen Kollegs; 75), München 2011, S. 269–274.
3 Siehe die Ausstellung „Nero – Kaiser, Künstler und Tyrann“ im Rheinischen Landesmuseum in Trier 2016 und die Ausstellung „Nero – The Man behind the Myth“ im British Museum in London 2021.
4 Rolf Rilinger, Seneca und Nero. Konzepte zur Legitimation kaiserlicher Herrschaft, in: Klio 78 (1996), S. 130–157 und Mischa Meier, „Qualis artifex pereo“ – Neros letzte Reise, in: HZ 286, 3 (2008), S. 561–603.
5 Lisa Cordes, Kaiser und Tyrann. Die Kodierung und Umkodierung der Herrschaftsrepräsentation Neros und Domitians (Philologus; 8), Berlin 2017.
6 Jaś Elsner / Jamie Masters (Hrsg.), Reflections of Nero. Culture, History & Representation, London 1994.

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